Ausgrabungen | Baiovarisch
Die Herrschinger Villa rustica
Eine Villa rustica ist keine rustikale Villa und auch kein Landhaus, sondern ein landwirtschaftliches Anwesen aus Wohngebäude, Ställen, Scheunen, Geräteschuppen und Werkstätten, umgeben von Wirtschaftsflächen und umgrenzt von Zaun und Graben. Die Pächter oder Besitzer waren neben Veteranen des römischen Heeres auch wohlhabende Stadtbürger, die den Gutshof zu Erwerbszwecken nutzten oder an coloni weiterverpachteten. Der wirtschaftliche Zweck war die Versorgung der Truppen und naheliegender Siedlungen oder Städte, in unserem Fall etwa von Bratananium/Gauting.
Wie sie ihr Anwesen nannten, wissen wir nicht genau, vielleicht fundus „Grundstück, Landgut“, vielleicht auch kurz villa. Jedenfalls begegnet unsere heutige Bezeichnung bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. bei Columella in seinem Buch über die Landwirtschaft, De re rustica, wo er die villa urbana, die Stadtvilla, von der villa rustica unterscheidet.
Eine Vorstellung von der Größe der Herrschinger Villa rustica bekommt man, wenn man sich die Dimensionen des prospektierten bzw. ergrabenen Areals vergegenwärtigt: 6500 m² dokumentierte die Grabung von 2004, weitere 3000 m² erfassten die Grabungen der Jahre 2006 und 2011. – wobei wohl nur im Süden die Siedlungsgrenze erreicht ist. Dabei gehörte die Herrschinger Villa rustica mit ihren bis jetzt bekannten ca. 10 000 m² wohl noch zu den kleineren Anlagen.
Als Außengrenze und auch zur Gliederung der Anlage dienten schmale Gräben mit Flechtwerkzäunen, sog. Zaungräbchen, im Innenbereich oft zur Abtrennung von Gärten oder Viehpferchen. Ein gemauertes Hauptgebäude, wie in vielen anderen römischen Gutshöfen, wurde in Herrsching bis jetzt nicht nachgewiesen, aus Stein errichtet war jedoch das in solchen Anlagen obligatorische Badehaus (Plan Nr. 42). Außerdem entdeckte man die Grundrisse von elf Holzhäusern – einschließlich des bereits aus der Grabung 1982 bekannten Pfostenbaus, der aufgrund seiner Form und Größe wohl als römisch zu gelten hat. Eines der fünf größeren Gebäude, mit einer Grundfläche von 65 m² (Nr. 159), ist der Fundort eines Depots eiserner Seche, die in einer Art Kellergrube abgelegt waren. Das Haus stand nicht weit vom Badehaus entfernt, seine Funktion bleibt jedoch wie in den meisten Fällen unbekannt. Eine Ausnahme macht ein Holzhaus ähnlicher Größe am Ostrand des Areals (Nr. 382), das einen umzäunten, teilweise gemauerten Hof besaß, in mehrere drei Meter breite Boxen eingeteilt war und vielleicht als Stallung diente.
Wie in allen römischen Gutshöfen war die Viehzucht neben dem Ackerbau ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, das dokumentieren die über 150 Funde von Tierknochen. Rinder wurden gehalten, Pferde, Schweine, Schafe, Ziegen, Geflügel, und natürlich standen auch Fisch und Muscheln auf dem Speisezettel. Vom Alltag des damaligen Lebens geben zahlreiche Fundstücke Zeugnis, vor allem die fast zweihundert Keramikscherben, oder auch der anschauliche Pfotenabdruck eines Hundes auf einem Ziegelbruchstück. Manche der Gefäße bezeugen ungewöhnlichen Wohlstand, ein Graffito überliefert uns sogar den Namen eines jener Siedler, die als erste die Vorzüge dieser Wohngegend erkannten, den ersten Namen eines „Herrschingers“: Sangenus.
Der aufschlussreiche Gürtelbeschlag eines Militärgürtels und der Fundort der eisernen Seche erinnern uns freilich auch an die Bedrohungen, unter denen die Bewohner des Gutshofs zeitweise leben mussten.
Sie waren wohl zu Beginn des 2. Jahrhunderts gekommen, zu einer Zeit, als das römische Reich mit den Kaisern Trajan und Hadrian auf der Höhe seiner Macht stand. Sie überstanden mit Mühe die politischen und militärischen Krisen des 3. Jahrhunderts und blieben nach Ausweis datierbarer Funde wie der Münzen bis in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts. Die Kalkbrennöfen aus dieser Zeit deuten darauf hin, dass man nun aus den Steinen der alten Mauern Kalk gebrannt hat.
Mit den wiederholten Einfällen der Alemannen in die Provinz Raetien war die Zeit der römischen Gutshöfe zu Ende gegangen. Die Bevölkerung zog sich nach Möglichkeit in befestigte Höhensiedlungen wie Widdersberg zurück. „Von den einst rund tausend villae rusticae des Alpenvorlands überlebten ins 4. Jahrhundert nur einige hundert …auf reduziertem Niveau“ (Dietz). Ihre Ruinen in Herrsching besiedelten zwei Jahrhunderte später andere Leute. Man nannte sie Baiovaren.
Dietz, K., Die Römerzeit, in: Schmid, A. (Hg.), Das alte Bayern, München 2017, S. 101