Ausgrabungen | Baiovarisch
Raetien - die Keimzelle Altbaierns
Im Jahr 15 v. Chr. eroberten die Römer unter Augustus in zwei Feldzügen das Alpenvorland bis zur Donau. Wenig später errichteten sie dort zwei neue Provinzen, Noricum im Osten und westlich des Inns die Provinz Raetia, die sich anfangs bis zum Bodensee und in die Ostschweiz erstreckte (Curia/Chur). Raetia benannten sie nach den alten, vorkeltischen Bewohnern der Zentralalpen, den Raetern, die spätere Provinzhauptstadt des östlichen Teils zwischen Iller und Inn, Augusta Vindelic(or)um, nach dem dort ansässigen keltischen Stamm der Vindeliker.
Während das keltische Königreich Noricum mit seinen Eisenerzvorkommen schon seit dem 2. Jh. v. Chr. ein wichtiger Handelspartner und Verbündeter Roms war, musste Raetien militärisch gesichert und erschlossen werden. Als erstes wurden Straßen gebaut, dann entlang der Straßen und an der Donaugrenze Militärlager und militärisch gesicherte Siedlungen (vici) wie Bratananium/Gauting oder Cambodunum/Kempten, das schon wenige Jahrzehnte später zur Stadt ausgebaut wurde. Zur Versorgung des Militärs und der Zivilbevölkerung entstanden im Abstand von oft nur wenigen Kilometern landwirtschaftliche Anwesen, so z.B. die Villae rusticae in Herrsching und Ramsee, die mit der wichtigen Straße von Bregenz über Epfach und Gauting nach Salzburg verbunden waren.
Etwa zwei Jahrhunderte war es friedlich in Raetien, von den Markomannenkriegen im Osten und einer Pestepidemie einmal abgesehen, doch um 250 stürzten gefährliche Alemanneneinfälle die Provinz und das ganze Imperium in eine schwere Krise. Der Limes zwischen Rhein und Donau musste aufgegeben werden („Limesfall“), das Regensburger Legionslager wurde zerstört. Die landwirtschaftliche Versorgung brach teilweise zusammen, die Menschen zogen sich in Höhensiedlungen wie Widdersberg zurück. Depotfunde von Münzen und anderen Wertsachen zeugen von der Angst der Bevölkerung – in der Herrschinger Villa rustica fand man z.B. ein Depot von acht schweren eisernen Sechen, die man nie wieder aus ihrem Versteck hervorgeholt hat. Das Alpenvorland wurde „auf einen nie gekannten Tiefpunkt hinabgedrückt“ (Dietz).
Den Kaisern Diokletian und Konstantin gelang es zwar im 4. Jahrhundert, die Lage durch Teilung der Provinz und andere Reformen etwas zu stabilisieren(Raetia prima/Chur, Raetia secunda/Augsburg). Die Verwaltung von Raetia II überlebte auch das förmliche Ende des weströmischen Reichs 476 und das kurze ostgotische Zwischenspiel um 500 unter Theoderich. Doch die Lage der raetischen Landbevölkerung besserte sich nicht mehr. Erst 536, als die Ostgoten die Provinz an das expandierende merowingische Königreich der Franken übergaben, begann eine neue Zeit.
Es begann – so der Titel eines einschlägigen Sammelbands von 2019 – die „Gründerzeit“ des bairischen Herzogtums der Agilolfinger. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Bevölkerung, das sich allmählich entwickelt hatte, verfestigte sich unter dem Druck der neuen politischen und militärischen Herausforderungen erstmals in einem Namen: Baiovaren.
Dietz, K., Die Römerzeit, in: Schmid, A. (Hg.), Das alte Bayern, München 2017, S. 99
Haberstroh, J. & Heitmeier, I. (Hgg.): Gründerzeit: Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und Frühmittelalter. St. Ottilien 2019