Ausgrabungen | Baiovarisch
Wer waren die Baiovaren?
Bevor von Norden die Germanen und von Süden die Römer kamen, war Mitteleuropa bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. das Land der Kelten. In unserer Gegend hießen sie Vindeliker, weiter östlich war das Reich der Boier, des größten und historisch wichtigsten Keltenstammes. Schon drei Jahrhunderte früher waren sie siegreich bis nach Mittelitalien vorgedrungen, die Stadt Bologna trägt noch ihren Namen. Dann wurden sie wieder, von Scipio und zuletzt von Caesar, in ihre alte Heimat zurückgedrängt, nach *Boio-haima, wie römische Historiker berichten, nach Bē-haim, Böhmen. Auch die Römerkastelle Boiodurum und Boiotro in Passau bewahren ihren Namen, und vor allem: die Baiovaren oder, mit üblicher falscher Schreibung, die Bajuwaren.
Sicher ist es nicht so, wie im 7. Jahrhundert Jonas von Bobbio meinte, ein Mönch aus Piemont, dass die alten Baiern einfach die Nachfahren der Boier waren, Boios, qui nunc Baioarii vocantur, „die Boier, die jetzt Baiern heißen“. Und es ist auch nicht so, wie man bis vor kurzem aus etymologischen Gründen meinte, dass die Baiern Angehörige eines aus Böhmen eingewanderten Germanenstamms waren, z.B. Abkömmlinge der Markomannen oder der Quaden, „ein Restsplitter der Völkerwanderung“ (Bosl). Die noch vor einigen Jahren für diese Annahme vorgebrachten archäologischen Argumente, z.B. die Verbreitung einer bestimmten Keramiksorte, sind inzwischen alle widerlegt.
Tatsache ist aber, dass im Baiern-Namen die keltischen Boier fortleben – mit regulärem Lautwandel von [oi] zu [ai]. Die alte „Bojerthese“, die das „bayerische Geschichtsbild“ bis ins 19. Jahrhunderte dominierte (Deutinger), hat sowohl sprachwissenschaftlich wie historisch einen richtigen Kern. Als einzige der vielen Deutungsversuche – es gibt ein rundes Dutzend davon – kann die Herleitung des Baiern-Namens aus germ. *Baio-wariōz nicht nur die Lautentwicklung des Wortes korrekt erklären, sondern die Namensprägung auch in einen konkreten geschichtlichen Hintergrund einordnen.
*Baio-wariōz, latinisiert Baio-varii, gehört in eine lange Reihe von Namen, die die Verteidiger eines politisch und militärisch wichtigen Grenzgebiets bezeichneten. Das zweite Glied des Wortes gehört zum Stamm von wehren, das erste bezeichnet die früheren Bewohner des Gebiets, z.B. die Raeter in Raeto-varii oder die Falen in Falcho-varii, oder andere charakteristische Eigenschaften der Gegend wie Flüsse in Amsi-varii, Chas-varii „Anwohner der Ems bzw. der Hase“ (Tacitus). Der militärische Aspekt wird besonders deutlich im Namen der Rip-varii, der „Verteidiger des Flussufers“ (lat. ripa), der an die römischen milites riparienses erinnert, an die Rhein und Donau bewachenden „Ufersoldaten“.
Die Baiovarii, die Baiovaren waren also die Verteidiger und Bewohner des alten Boier-Lands. Das war zunächst das Voralpenland östlich des Inns, die ehemalige römische Provinz Noricum, später war es das gesamte Gebiet zwischen Iller und Enns, militärisch bedeutsam mit seinen Alpenpässen und den Langobarden im Süden, den Thüringern im Norden und den Awaren, Slaven und Byzantinern im Osten. Kein Zufall also, dass der Name der Baiovaren genau zur selben Zeit auftauchte, als sich das expandierende fränkische Königreich mit dem Herzogtum der Agilolfinger seinen östlichen Vorposten schuf, in der Mitte des 6. Jahrhunderts.
„Gründerzeit“ hat man jene erste Epoche der bayerischen Geschichte genannt, als die Bevölkerung zu einer politischen Einheit zusammenwuchs und erstmals einen Namen bekam – von außen wahrscheinlich, vielleicht von den Franken oder Alemannen im Westen. Gerne wüssten wir, welche Menschen das waren, die sich da allmählich als eigener „Stamm“ verstanden und benannten. Kelten waren es ursprünglich, dann Römer („Romanen, Walchen“), später in der Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich eine Menge umgesiedelter Alemannen, und schließlich wohl auch viele jener Langobarden, die im 6. Jahrhundert nicht erobernd nach Italien gezogen waren, sondern sich von der mittleren Donau friedlich nach Westen orientierten.
Ein Mischvolk also, die alten Baiovaren. Und vielleicht ein Modell, von dem wir Heutigen wieder lernen können.
Bosl, Karl: Geschichte des Mittelalters. München 1951
Deutinger, Roman: Das Zeitalter der Agilolfinger. In: Schmid, A. (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichte. Band I, 1. Das Alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, S. 124-212
Haberstroh, Jochen & Heitmeier, Irmtraut (Hgg.): Gründerzeit. Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und frühem Mittelalter. St. Ottilien 2019
Heitmeier, Irmtraut: Dux und „rex“? Der hybride Charakter des agilolfingischen Herzogtums. In: Brather, S. (Hg.): Die Dukate des Merowingerreiches, Berlin 2023, S. 297-360
Rübekeil, Ludwig: Der Name Baiovarii und seine typologische Nachbarschaft. In: Fehr, H. & Heitmeier, I. (Hgg.): Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria. St. Ottilien 2. Aufl. 2014, S. 149-162